Perspektivgeschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland - ein kleiner Rückblick


Wolfgang Seitter hat sich intensiv in seinem Buch der Geschichte der Erwachsenenbildung gewidmet. Dr. Frank Dittmer (Leiter der VHS Havelland) hat für Sie die Geschichte des Begriffes "Erwachsenenbildung" und der "Adressatenkonstruktion" zusammengefasst und gibt einen Einblick die Institutionsgeschichte.


Öffnet internen Link im aktuellen FensterErwachsenenbildung in Deutschland - Eine Begriffsgeschichte
Öffnet internen Link im aktuellen FensterErwachsenenbildung in Deutschland – Geschichte einer Adressatenkonstruktion
Öffnet internen Link im aktuellen FensterErwachsenenbildung in Deutschland – Umriss einer Institutionengeschichte


Erwachsenenbildung in Deutschland – Eine Begriffsgeschichte


Der Perspektivwechsel, der in der Weiterbildung Erwachsener im Verlauf der vergangenen rund dreihundert Jahre eingetreten ist, lässt sich bereits im Wandel ihrer Gattungsbegriffe musterhaft darstellen:

  • Einerseits im Personenbezug: Wird mit „Volksbildung“ noch ein Kollektiv-Singular angesprochen, das in umfassender Gestaltungsabsicht paternalistisch geformt, „gebildet“ werden soll, steht „Erwachsenenbildung“ stärker für eine personenbezogene, statt kollektive Einwirkung.
  • Andererseits im Zeitbezug: Bringt „Weiterbildung“ schon einmal, anders als die reine Personenkonstruktion, eine zeitliche Fort-Bewegung ins Spiel, so steht das heute allgegenwärtige „Lebenslange Lernen“ für eine prinzipiell unabschließbare Permanenz, für eine feste Integration des Lernens in den gesamten Lebenslauf.


Volksbildung

Der altersunspezifische Sammelbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts hat eher traditionswahrenden Charakter: es geht um Belehrung in dem Sinne, jeden an seinem Platz einzuordnen im ständischen Volksganzen. Der „Erwachsene“ ist noch keine gängige Sozialform und weniger das biologische Alter als der soziale Status definiert das „Erwachsensein“. Die „niederen Stände“ werden von der „Herrschaft“ fast wie Kinder gehalten, also nicht als autonome Erwachsene verstanden. Insoweit trägt der Begriff „Volk“ immer auch eine herabsetzende Bedeutung in sich („niederes“ Volk), bezeichnet zumindest ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis. Bildungsprozesse dienten zur Moralisierung, praktischen Anpassungsfortbildung oder zur Bewältigung lokaler, kollektiver Prozesse. Das Individuum wird noch nicht in den Blick genommen, auch keine eigene „Erwachsenenpädagogik“ entworfen. Staatliches Nützlichkeits-, wenn nicht gar Unterwerfungsdenken steht im Vordergrund.

Erwachsenenbildung

Erst in der Weimarer Republik kommt es im Bildungswesen zur deutlichen Abgrenzung einer Sozialfigur „Erwachsener“ vom „unfertigen“, erziehungsbedürftigen Schüler. Grundlage für diese Betrachtung ist ein ausgeformtes Schulsystem für Minderjährige, zu dem als Gegen- und Ergänzungspart nun eine nicht-schulische Didaktik für Erwachsene entworfen werden kann. Wichtig für dessen Konstruktion ist es, den Erwachsenen als Person mit eigener Geschichte und Erfahrungswelt zu respektieren, um dessen Eigenständigkeit, Autonomie, Freiwilligkeit seiner Bildungs-Teilhabe zugrundelegen zu können. Damit wird zugleich der Dozent vom „Schulmeister“ im modernen Sinne zum Vermittler, Moderator, Lernhelfer befördert. Die „Arbeitsgruppe“ rückt als Vermittlungsforum in den Blick. Bildungspflege soll jetzt ohne Verpflichtungscharakter und gesellschaftliche Selektivwirkung auskommen.

Weiterbildung / Lebenslanges Lernen

Im Zuge der Bildungsdiskussion der 1960er und 1970er Jahre verschieben sich Begrifflichkeiten und Bedeutungsperspektive des Erwachsenenlernens erneut. Es gibt jetzt einerseits kein statisches Erwachsenenbild mehr – das „fertige Selbst“ gerät in die Krise. Die moderne Gesellschaft mutet dem Erwachsenen eine ständige Lernbereitschaft zu. So wird jetzt die Wiederaufnahme eines organisierten Lernens nach einer abgeschlossenen Schulausbildung als dauerhafte Aufgabe für alle angesehen und das Lernen in diesem Alter in Rückbindung an das allgemeine Bildungssystem als dessen „vierte Säule“ eingeordnet. Diese permanente Ausweitung der Schülerrolle ins Erwachsenenalter löst aber gewissermaßen auch wieder die scharfe Trennung von Erwachsenen- und Schüler-Pädagogik auf, weil das „Weiterlernen“ nur die andere Seite des selben, lebensbegleitenden Prozesses ist (und die Regelschule lediglich ein Sonderfall des lebenslangen Lernens). Das Alter spielt damit quasi für das Lernen gar keine Rolle mehr, wir haben es nun mit einem „altersspezifischen Kontinuum von prinzipiell unabschließbaren Weiterbildungsmöglichkeiten zu tun“ (Wolfgang Seitter).


Erwachsenenbildung in Deutschland – Geschichte einer Adressatenkonstruktion


In seiner anregenden „Geschichte der Erwachsenenbildung“ lädt Wolfgang Seitter dazu ein, die Teilnehmenden nicht als historisch gegebene Gruppen, sondern als von außen konstruierte und homogenisierte Ziel-Gruppen der jeweils handelnden (Erwachsenen-) Pädagogik zu verstehen. Dafür entwirft er unter periodischer Aufgliederung drei typische Adressatenkonstruktionen.


„Der aufklärungsbedürftige Bauer“

„Falsch und schädlich ist jede allzu ausgedehnte Aufklärung; alles, was das Volk zu Vielwisserei bringt. Der Landmann ist bestimmt, in seinem eingeschränkten Kreise treu und stät zu wirken. Es kommt bei ihm gar nicht darauf an, Vielerlei zu wissen und vielerlei zu tun; sondern weniges recht zu wissen, treu und immer zu befolgen (…); er soll sich helfen lernen in den Verlegenheiten, in die er leicht kommen kann. Er soll deutlich und genau wissen, was die Obrigkeit ihm befohlen oder verboten hat.“
Was der Theologe Johann Ludwig Ewald hier 1790 in seinem Werk „Über Volksaufklärung; ihre Gränzen und Vortheile“ formuliert, ist die Defensivstrategie einer Pädagogik für den „einfachen Mann“ in der Ständgesellschaft des 18. Jahrhunderts, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wirken sollte: Zwar sollten potentiell im Rahmen der Popularisierung des Wissens alle Menschen am Erkenntnis¬fortschritt teilhaben können, aber doch nur so weit, wie es für ihren Lebensbereich (von oben herab definiert) für nützlich gehalten wurde und für die Obrigkeit tragbar erschien. Zuviel Bildung geriet schnell in Verdacht, Revolutionsgelüste auszulösen, wandernde „Volksaufklärer“ waren immer mit einem Bein im Gefängnis.

„Die partizipationswilligen, unbemittelten Schichten“

Das Reformbeamtentum und die linksliberale Bürgerschaft entdeckten für sich und ihr gesellschafts¬politisches Umfeld um die Wende zum 20. Jahrhundert die „soziale Frage“ und traten für einen flächendeckenden Aufbau kommunaler Daseinsvorsorge – auch in Bildungsfragen – ein, um die Arbeiterschaft „sozial einzugemeinden“. Der Zielgruppenkonstruktion lag die Idee zugrunde, dass für bestimmte Bevölkerungsgruppen wegen objektiver gesellschaftlicher Benachteiligung kein adäquater Bildungszugang existiere und deswegen die Zugangsbarrieren für eine gleichberechtigte Teilhabe gesenkt werden müssten. „Gleiches Anrecht Aller auf alles Wissenswerte“ hieß vor allem, in allen Kultur- und Bildungsbereichen Zugänge zu schaffen, z.B. durch „Volksvorlesungen, „Volksvorstellungen“ etc.

„Der bildungsberechtigte Erwachsene“

Im Rahmen der Bildungsreform-Diskussion der 1970er Jahre wurden der flächendeckende Ausbau der Erwachsenenbildung und ihre institutionelle Förderung verstetigt. Dass dies eine dauerhafte Aufgabe für die Allgemeinheit sei, konnte jetzt nicht mehr in Frage gestellt werden. Erwachsenen-bildung war nun nicht mehr allein etwas für bildungsinteressierte Minderheiten, sondern wurde zum einklagbaren Recht aller Erwachsenen. Dafür sorgte in der Bundesrepublik beispielsweise das Arbeitsfördergesetz zur beruflichen Fortbildung (1969) und in den Ländern das Instrument des Bildungsurlaubs, das Weiterbildung vom „Ausnahmefall“ des (beruflichen) Lebens zu einer fortlaufenden Option machte. Gleichzeitig kam es zu immer differenzierteren, gestuften, aufbauenden, abschlussorientierten Bildungsformaten für Erwachsene.


Erwachsenenbildung in Deutschland – Umriss einer Institutionengeschichte


Betrachtet man Erwachsenenbildung im Verlauf der vergangenen 300 Jahre in ihrer zunehmenden Institutionalisierung, so lässt sich schärfer unterscheiden zwischen ihrer Kompensations- und Komplementärfunktion zum übrigen Bildungswesen und sie lassen sich im Spannungsbogen zwischen beruflicher (Aus-) Bildung und sozialen Reformbewegungen klarer verorten. Wolfgang Seitter stellt diese Entwicklung hin zur heutigen Volkshochschule in drei wesentlichen Phasen dar.


Volksbildung / Volksaufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts

Die Popularisierung von Wissen für Erwachsene war in dieser Phase stark auf das lokale Umfeld hin ausgerichtet, überwiegend an der Aufrechterhaltung kollektiver Verhaltensnormen und der bestehenden staatlichen Ordnung orientiert. Grob lassen sich drei parallele Entwicklungslinien unterscheiden:

  • Gesellige Bürgerbildung in Nachahmung der Adelskultur: In Clubs, Salons, Lesezirkeln und Bildungs-Gesellschaften fand hier, zur Selbstvergewisserung bürgerlicher Identität und ständeübergreifend, eine Kombination von geselliger Bildung, gegenseitiger Aufklärung (Kommunikation unter Gleichen), musikalisch-kultureller Betätigung, politischer Diskussion und gemeinnütziger Arbeit statt.
  • Allgemeine und berufliche Ausbildung: Jenseits des Zunftwesens und später im Rahmen der allgemeinen Gewerbefreiheit wurde hier für städtische Handwerker und Arbeiter die Modernisierung vorangetrieben, indem man deren individuelle Weiterentwicklung förderte, sei es im elementaren Unterricht (Lesen und Schreiben) oder in der Förderung der Abstraktionsfähigkeit (z.B. im technischen Zeichnen).
  • „Hebung“ des bäuerlichen Standes: In der agrarisch-technischen Fortbildung ebenso wie bei der volkserzieherischen Tätigkeit der Pfarrer (deren „pädagogisches“ Tun sich überwiegend nicht im Unterricht für Erwachsene, sondern im Medium der Predigt sowie im eigenen, lebenspraktischen Vorbild vollzog) wurde das Alltagswissen verbessert, aber auch die Unterordnung unter das herrschende System bewahrt.

Volks- und Erwachsenenbildung zwischen Wohlfahrtsstaat und Mileuerhalt (19. / 20. Jahrhundert)

Nachdem die Institution Schule im Laufe des 19. Jahrhunderts Flächendeckung und Verbindlichkeit erreicht hatte, konnte nun auch Griff auf die nicht unterrichtspflichtige Bevölkerung genommen und damit die anschließende Lebensphase der Adoleszenz schulorganisatorisch durchdrungen werden. Angebote wurden verdichtet und institutionell verstetigt, überregionale Dachverbände gegründet. Man hielt, wie auch später in der jungen VHS-Bewegung, am Ideal einer bürgerlich-akademischen, wissenschaftsorientierten Bildung fest, wollte Bildungsbenachteiligte an Wissen und Kultur teilhaben lassen. Ein umfassender Inklusionsanspruch machte sich breit, schichten- und geschlechterunabhängig. Allmählich verschoben sich kompensatorische Funktionen in die Pflichtschule, die sozial-ökonomischen Aufgaben der Bürgerbildung des 19. Jahrhunderts wurden jetzt von staatlichen Stellen übernommen (z.B. kommunalen Wohlfahrtskassen). So konnten sich „funktional bereinigte“ Institutionen wie die Volkshochschulen auf den Ausbau künstlerisch-kultureller Angebote konzentrieren und zunehmend erwachsenenbildnerisch spezialisieren.

Weiterbildung als öffentliche Aufgabe

Im Zuge der bildungsreformerischen Erneuerungsbestrebungen der 1960er / 70er Jahre geschieht ein Institutionalisierungs- und Professionalisierungsschub der Erwachsenenbildung, sie wird zur anerkannten „öffentlichen Aufgabe“ als Teilsystem des allgemeinen Bildungswesens („4. Säule“), als deren institutionelles Zentrum jetzt vielfach die Volkshochschule verstanden wird. Man sieht die Bildung Erwachsener jetzt als „kommunale Daseinsfürsorge“, die rechtlich und finanziell verstetigt werden soll. Trotz einer länderdifferenten Pluralität kommt es zu Vereinheitlichungsbestrebungen, die auch durch Bildungs-Bausteine, Zertifikate und übergreifende Bildungs-Formate weitere Stadien der Standardisierung durchlaufen. Gegen die Bevorzugung der institutionalisierten, öffentlichen Erwachsenenbildung machen sich aber auch Stimmen und Initiativen bemerkbar, die alternative, dezentrale Bildungsszenarien und -Angebote fordern, fördern und pflegen.


Quelle: Wolfgang Seitter: Geschichte der Erwachsenenbildung. Eine Einführung.- Bielefeld 2007. Zusammenfassung: Dr. Frank Dittmer, Februar 2019